Reisen für Inklusion und Teilhabe - Welttag der Menschen mit Behinderung

Heike Eberhard 0 Inklusion Partnerschaft

Schülerinnen und Schüler einer deutschen und einer tansanischen Schule für Hörgeschädigte entwickelten bei Begegnungsreisen in ihre jeweiligen Länder die Idee, ein bilinguales Gebärdenlexikon im Videoformat zusammenzustellen. Am Internationale Tag der Menschen mit Behinderung erzählt Heike Eberhard, stellvertretende Schulleiterin der deutschen Schule, im Interview über das inklusive Projekt, die vom ENSA-Programm finanziell geförderten Reisen und die langjährige globale Schulpartnerschaft.

Schülerinnen und Schüler einer deutschen und einer tansanischen Schule für Hörgeschädigte entwickelten bei Begegnungsreisen in ihre jeweiligen Länder die Idee, ein bilinguales Gebärdenlexikon im Videoformat zusammenzustellen. Am Internationale Tag der Menschen mit Behinderung erzählt Heike Eberhard, stellvertretende Schulleiterin der deutschen Schule, im Interview über das inklusive Projekt, die vom ENSA-Programm finanziell geförderten Reisen und die langjährige globale Schulpartnerschaft.

Porträt von Heike Eberhard
Foto: Heike Eberhard

1. Frau Eberhard, Sie sind stellvertretende Schulleiterin an der Schule für Hörgeschädigte St. Josef, die seit 1988 eine Partnerschaft mit der St. Vincent Gehörlosenschule in Songea, Tansania, hat. Wie ist die Partnerschaft entstanden und wie pflegen die Schülerinnen und Schüler diese?

Die Partnerschaft entstand dadurch, dass beide Schulen ihre Wurzeln in der Genossenschaft der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul in Untermarchtal haben. St. Vincent School for the Deaf, also unsere tansanische Partnerschule, wurde 1988 gegründet. Es war für die Schwestern natürlich logisch, dass die Partnerschaft mit einer deutschen Schule für Hörgeschädigte hilfreich wäre. Aus heutiger Sicht war das sicherlich so. Allerdings war der Charakter der Partnerschaft damals noch ein gänzlich anderer: In der Überzeugung, den KollegInnen und den hörgeschädigten Kindern in Tansania Gutes zu tun, beschloss der „Norden“, was für den „Süden“ hilfreich und gewinnbringend sein könnte. So wurde Vieles eins zu eins nach Tansania übernommen, was dort überhaupt nicht den wirklichen Bedürfnissen entsprach.

Ein Umdenken setzte ein, als 2014 eine Gruppe gehörloser Jugendlicher aus Tansania, zusammen mit ein paar LehrerInnen, nach Deutschland reiste. Im direkten Kontakt mit den Kindern wurde schnell klar, dass Hörgeräte nichts nützen, wenn zum Beispiel die Versorgung mit Batterien nicht gewährleistet ist. Diese Begegnung und schließlich ein Wechsel in der Schulleitung von St. Josef waren der Umschwung zur Augenhöhe. Die tansanischen KollegInnen trauten sich, ihre Bedürfnisse und Wünsche an die Partnerschaft zu formulieren. Und die deutsche Seite legte schließlich ihre Haltung ab, besser zu wissen, was in Tansania notwendig sei.

Was bis dahin eine reine Schulpartnerschaft auf Leitungsebene war, änderte sich mit der Begegnungsreise 2019, als eine Gruppe von zehn deutschen SchülerInnen nach Tansania reiste und dort gemeinsam mit den tansanischen SchülerInnen an konkreten Projekten arbeitete. Schnell war allen Beteiligten klar, dass die Verständigung nicht einfach, aber auch nicht unmöglich war. Mit dem Herzen waren alle dabei und fortan wechselten jedes Mal, wenn auf Ordensebene eine Reise durchgeführt wurde, kleine Briefe und geschriebene oder gezeichnete Botschaften den Kontinent.

Natürlich wurden wir – so wie viele andere Schulpartnerschaften auch – von Corona heftig ausgebremst. Leider sind die technischen Voraussetzungen in unserer Partnerschule noch nicht so weit, dass Online-Meetings problemlos durchgeführt werden können. Es mangelt einfach an einem stabilen Internetzugang. Außerdem gibt es zu wenig zuverlässige Endgeräte. Hier ist also noch viel Luft nach oben.

2. Erzählen Sie uns von den Begegnungsreisen 2014 und 2019. Welche Projekte haben die beiden Schulen gemeinsam entwickelt? Was haben die Schülerinnen und Schüler dabei gelernt?

Die erste Begegnung 2014 zeigte, dass sich die SchülerInnen beider Länder unglaublich aufgeschlossen gegenübertreten. Die deutschen SchülerInnen „quetschten“ die tansanischen förmlich aus und die tansanischen waren einfach nur überwältigt, dass es in Deutschland so viele Kinder und Jugendliche mit denselben Hörproblemen gibt. Es war aber auch schnell deutlich, dass der direkte Kontakt sehr schwierig war. Die tansanische Gebärdensprache hat sich aus der englischen Gebärdensprache entwickelt, die deutsche Gebärdensprache hat sich eigenständig entwickelt. Sie liegen doch so weit auseinander, dass der direkte Einstieg in eine gebärdensprachlich geführte Unterhaltung nicht möglich war. Und so entstand die Idee zum deutsch-tansanischen Gebärdenlexikon, das wir dann 2019 bei unserem Outgoing begonnen haben.

3. Heute ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Was für einen Beitrag leisten insbesondere internationale Projekte wie das bilinguale Gebärdenlexikon für Teilhabe und Inklusion?

Für den Großteil der weltweiten Bevölkerung einen vermeintlich kleinen. Für die Beteiligten jedoch einen ganz elementaren, denn sie erleben sich als zu einer Community zugehörig. Was die Akzeptanz einer (Hör-)Behinderung betrifft, sind wir in Deutschland zwar schon weiter als noch vor 20 Jahren, aber (auch im internationalen Vergleich) noch lange nicht am Ziel. In Tansania ist das leider noch völlig anders. Dort gilt Hörbehinderung, vor allem in ländlichen Gebieten, häufig noch immer als gottgewollte Strafe, als Fluch, der auf der Familie lastet und als eine Tatsache, die möglichst verschwiegen werden sollte. Dass es eine Schule für Hörgeschädigte gibt, in denen die Kinder eine schulische Bildung erfahren, ist ein erster großer Schritt. Bildung ist die elementarste aller Grundlagen.

Für unsere PartnerschülerInnen ist es ungeheuer wichtig, sich als Teil einer Gemeinschaft zu erleben. Zu sehen, dass es weltweit Gehörlose gibt, die in weiten Teilen ihr Leben alleine meistern und denen „die Welt offen steht“ ist eine für sie gänzlich neue Perspektive. Insofern leistet die Partnerschaft hier einen Beitrag zum Empowerment der tansanischen Hörgeschädigten.

Der Zugang zur Schriftsprache ist für die meisten unserer PartnerschülerInnen extrem erschwert oder gänzlich unmöglich. Umso wichtiger ist es, dass sie sich in der Gebärdensprache gut ausdrücken können. Das tansanisch-deutsche Gebärdenlexikon kann hier einen wichtigen Beitrag zur (internationalen) Teilhabe leisten, indem nicht nur die tansanischen Gebärden wiederholt und gefestigt werden können, sondern auch die deutschen.

4. Ein Blick in die Zukunft: Wo wollen Sie noch hin mit der Partnerschaft? Und was wünschen Sie sich, was sollen die tansanischen und deutschen Jugendlichen aus dem Projekt mitnehmen?

Regelmäßige Austausche auf SchülerInnen-Ebene – sowohl real als auch virtuell – werden von allen Beteiligten sehr gewünscht. Alle stehen in den Startlöchern, um endlich wieder „richtig“ am Gebärdenlexikon weiterzuarbeiten. Neben dem hilfreichen Produkt, das in diesem Projekt entsteht, ist es jedoch vor allem Selbstwirksamkeit, die die SchülerInnen in diesem Projekt erleben. Die Vokabeln auszuwählen und selbst vor der Kamera, die ebenfalls von den TeilnehmerInnen geführt wird, in die eigenen Gebärdensprache umzusetzen und sie damit für den Rest der Welt sichtbar zu machen, ist für alle ein einschneidendes Erlebnis. In den letzten Online-Begegnungen hat sich auf KollegInnen-Ebene aber auch der Wunsch nach regelmäßigem Austausch bis hin zum temporären Job-Tausch herauskristallisiert. Vor allem auf tansanischer Seite ist die Suche nach inhaltlicher Fort- und Weiterbildung sehr intensiv, da die tansanische LehrerInnen-Ausbildung den Bereich Hörschädigung überhaupt nicht berücksichtigt.

Thema Hörschädigung ist jedoch nicht alles. Es gibt so viele andere Bereiche, in denen die Partnerschaft gewinnbringend sein kann. Globale Gerechtigkeit, Fairer Handel, Nachhaltigkeit und weiteres – das alles sind Themen, die wir gerne gemeinsam angehen möchten. Unsere Partnerschaft wird also auf Jahre hin nicht langweilig werden.

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