Radeln ohne Alter für ein mobiles Bonn
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Engagement Global: Was ist die Idee hinter Radeln ohne Alter?
Natalie Chirchietti: Wir leben in einer immer älter werdenden Gesellschaft in der viele Menschen in Isolation leben und dadurch ihre Lebensfreude verlieren. Wir sind überzeugt, dass das Leben auch im hohen Alter noch voller Freude sein kann und soll und unternehmen daher ehrenamtlich Rikscha-Fahrten mit Bewohnerinnen und Bewohnern von Senioren- und Pflegeheimen sowie mit Personen deren Mobilität eingeschränkt ist.
Unser Idee ist es, Zeit zu schenken, Jung und Alt zusammenzubringen, inklusivere Quartiere zu gestalten, Menschen im Alter Mobilität und ein Gefühl von Freiheit zu verschaffen, unseren Mitbürgern zu helfen ein aktiver Teil der Gesellschaft zu bleiben, Ausflüge an den Rhein, ins Lieblingscafé oder an geliebte Orte zu unternehmen und dabei Erinnerungen wach zu halten, voneinander zu lernen und gemeinsam zu lachen.
Unsere Philosophie ist:
- Es fängt mit einfacher Großzügigkeit an. Wir schenken alten Menschen unsere Zeit.
- Es gibt viele Geschichten, die die Älteren erzählen. Aber sie wollen auch welche von uns hören.
- Durch diese Gegenseitigkeit des Erzählens entstehen Beziehungen.
- Wir nehmen uns Zeit, und die Langsamkeit hilft uns dabei, die Umgebung wahrzunehmen und die Erfahrung der Fahrt zu schätzen.
Ohne Alter drückt die Idee aus, dass das Leben nicht einfach mit einem festgelegten Alter aufhört. Vielmehr nehmen wir mit Freude an, was jede Generation zu bieten hat. Und das alles einfach durch Radfahren.
EG: Welche Zielgruppe(n) wollt ihr ansprechen?
Natalie: In erster Linie wollen wir Seniorinnen und Senioren sowie Menschen mit eingeschränkter Mobilität erreichen. Nicht nur der gesundheitliche Zustand sondern auch die alltäglichen Mobilitätsbarrieren verwehren diesen Menschen oft eine aktive gesellschaftliche Teilhabe. Darüber hinaus möchten wir aber auch alle anderen Bonnerinnen und Bonner in den Quartieren erreichen und sie einladen Teil der Initiative zu werden, ihre Nachbarschaft, aber auch die Stadt besser kennenzulernen und wertzuschätzen. „Ohne Alter“ meint auch, dass es keine Altersbegrenzung gibt. Ob 18 oder 80 Jahre, Jede und Jeder kann bei uns mitmachen, egal ob als Pilotin, Pilot oder hinter den Kulissen bei der Entwicklung neuer Ideen.
EG: Radeln ohne Alter Bonn entstand vor zwei Jahren beim NachhaltigkeitsCamp Bonn. Wie kam das zustande?
Natalie: Bevor ich zum NachhaltigkeitsCamp ging, hatte ich eine grobe Idee im Kopf: Radeln ohne Alter (RoA) nach Bonn bringen. Ich kannte das Projekt bereits aus Berlin, wo ich eine Weile als ehrenamtliche Pilotin tätig war. Da mich die Idee so begeistert hat, spielte ich mit der Überlegung das Projekt nach Bonn zu holen und das ganze Potenzial noch weiter auszubauen. Für mich war klar, dass dieses Projekt weit mehr Bereiche anspricht als nur die Bekämpfung der Einsamkeit älterer Menschen - es ist ein Mehrwert für das ganze Quartier, für die ganze Stadt und für alle Menschen die in Bonn leben. Da jede tolle Idee nur so toll ist wie ihre Leute, suchte ich nach Unterstützung in Bonn. Menschen, die Lust hatten, gemeinsam mit mir die Idee voran zu treiben. Deshalb habe ich Radeln ohne Alter kurzer Hand beim NachhaltigkeitsCamp zum Thema gemacht. Darüber berichtete sogar meine Hochschule. Plötzlich kannte ich ganz viele Leute in Bonn, die mir halfen meine Ideen zu fokussieren. Viele von ihnen waren selbst total begeistert. Die Idee Radeln ohne Alter bestand also genau genommen schon vorher. Aber die Leute vor Ort haben mich in meinem Vorhaben unterstützt und deutlich gemacht, dass genau dieses Projekt auch in Bonn großen Erfolg bringen könnte. Die Leute die ich beim NachhaltigkeitsCamp kennengelernt habe, sind zum Teil auch ein aktiver Teil von RoA geworden. Da muss ich gleich an @danielakinkel von der Turmstation Kunigunde denken, die nicht nur Pilotin der ersten Stunde ist, sondern auch zum Team gehört und uns vor allem in der Öffentlichkeitsarbeit unterstützt. Oder auch @quermitdenker, der uns helfend zur Seite steht und vor allem auf Twitter ein toller Multiplikator ist. Ohne ihn wären wir nie als Shuttle für das Klima auf der Weltklimakonferenz im vergangenen Jahr geradelt. Aber auch an Ulrich Buchholz, der sich nicht nur im Haus Müllestumpe und der Velowerft engagiert, sondern auch gerade versucht gemeinsam mit uns die Idee Radeln ohne Alter nach Niederkassel zu bringen. Das NachhaltigkeitsCamp war eine super Gelegenheit um unsere grobe Idee mit anderen Leuten zu besprechen, sich andere Meinungen und Erfahrungen einzuholen, die mir letzten Endes den nötigen Mut gegeben haben, das Projekt gemeinsam mit Freunden und Bekannten voranzubringen.
EG: Der Weltverband von Radeln ohne Alter ist in Kopenhagen. Wie lief die Gründung in Bonn ab und wie läuft der Austausch?
Natalie: Zunächst war es ganz einfach Teil der weltweiten Initiative Radeln ohne Alter zu werden - ein Formular genügt und man gehört dazu. Die Gründung eines gemeinnützig anerkannten Vereins in Deutschland gestaltet sich da deutlich anspruchsvoller. Im Februar hatten wir (neun Bonner Studierende) unsere Gründungsveranstaltung, im Juli waren wir endlich gemeinnützig anerkannt und konnten richtig loslegen. In der Zwischenzeit haben wir viele Anträge für Finanzierungen geschrieben und an Wettbewerben teilgenommen, um uns mit dem nötigen Startkapital für die Anschaffung einer ersten Rikscha finanziell auszustatten. So haben wir unter anderem Unterstützung von der Bonner Bürgerstiftung, der Stiftung der Bonner Altenhilfe, der Zurich Versicherung und der Aktion Mensch erhalten. Im September haben wir mit einer großen Eröffnungsfeier gestartet, um uns und das Projekt den Menschen in Bonn vorzustellen. Mittlerweile haben wir vier eigene Vereins-Rikschas und wir andere Einrichtungen im Rhein-Sieg Kreis dabei unterstützt, für ihr Quartier ebenfalls eine eigene Rikscha anzuschaffen. Heute freut sich der Verein über mehr als 88 Mitglieder, darunter rund 25 ehrenamtliche Pilotinnen und Piloten. Tendenz deutlich steigend. Zum Austausch mit Kopenhagen: Wir sind in regelmäßigem Kontakt und können bei Fragen immer auf Dänemark zukommen. Außerdem gibt es die Möglichkeit beim jährlichen Summit andere Akteure als Europa zu treffen oder sich über eine Online-Plattform auszutauschen. Dadurch, dass es im Prinzip ein bestehendes „Projekt“ ist, existieren auch schon viele Materialien und ein Corporate Design, die den Start deutlich erleichtern und helfen die Idee schnell bekannt zu machen. Zudem kann man natürlich auf Erfahrungen aus Dänemark zurückgreifen. Es ist toll Teil einer großen RoA-Familie zu sein, die weltweit den Menschen den Wind in den Haaren verleiht.
EG: Was hat sich seit dem NachhaltigkeitsCamp vor zwei Jahren bei euch getan?
Natalie: Eine ganze Menge. Im Februar 2017 gegründet und im Juli gemeinnützig anerkannt, verfügen wir heute über vier eigene Rikschas (behindertengerechte Sonderanfertigungen mit Elektro-Motor), 88 Mitglieder (davon 25 ehrenamtliche Pilotinnen und Piloten) und kooperieren bereits mit sechs Senioreneinrichtungen und Quartieren in Bonn; Tendenz steigend! Zudem konnten wir die Idee auch in andere Städte in der Umgebung weitertragen und diese beraten. In Bonn ist eine tolle Gemeinschaft mit vielen Ehrenamtlichen entstanden, begleitet von regelmäßigen Treffen und Events. Außerdem erhalten wir von vielen Seiten finanzielle Unterstützung, zum Beispiel von der Bonner Bürgerstiftung, der Stiftung der Bonner Altenhilfe oder der Aktion Mensch.
EG: Eine gute Idee ist schon ein Anfang, aber daraus etwas zu machen, das funktioniert, ist schwer. Welche Tipps habt ihr für Neugründungen?
Natalie: Wichtig ist es zumindest ein Kernteam aus mehreren Personen, die wirklich hinter dem Projekt und der Projektidee stehen und bereit sind, einen Teil ihrer Freizeit zu investieren. Auch ein großes Netz an weiteren Ehrenamtlichen ist wichtig. Allein kann man so etwas nur schwer voranbringen. Gleichzeitig darf man die Leute aber auch nicht unter Druck setzen. Jeder soll nur so viel Zeit geben wie er kann; die Leute sollen sich nicht überfordert fühlen.
Zudem bieten wir monatliche Stammtische an, wo man sich ganz unverbindlich über das Projekt informieren kann und mit anderen Ehrenamtlichen ins Gespräch kommt – um herauszufinden, welche Möglichkeiten man hat, um sich zu engagieren und ob einem das wirklich zusagt.
Präsenz zeigen ist sehr wichtig. Man muss sich nach und nach in das Bewusstsein der Menschen kämpfen. So kann die Idee wachsen, es bietet eine gewisse Transparenz und Offenheit und gleichzeitig sichert man sich die Unterstützung der Öffentlichkeit. Für so etwas eignen sich hervorragend Infostände auf Märkten, Infoveranstaltungen an Hochschulen oder der Uni und so weiter. Auch auf den sozialen Medien kann es sinnvoll sein, regelmäßig über Aktivitäten aufzuklären. Wichtig ist auch, sich zu in der Stadt mit Leuten oder anderen Initiativen zu vernetzen, aktiv mit anderen Leuten ins Gespräch zu kommen und von der Idee zu erzählen. So können Gründerinnen und Gründer auch auf die Erfahrungen anderer zurückgreifen und sich gegenseitig unterstützen.
Storytelling ist eine gute Methode um andere Leute, seien es ehrenamtliche oder mögliche finanzielle Unterstützerinnen und Unterstützerinnen, von deiner Idee zu überzeugen. Persönliche Geschichten rufen Emotionen hervor und helfen die Idee hinter dem Projekt an andere weiter zu tragen und sie in den Bann zu ziehen.
Fundraising – es gibt viele Wege um an die nötige finanzielle Unterstützung zu kommen. Sprecht mit lokalen Unternehmen, schaut welche Wettbewerbe oder Ausschreibungen es zu eurem Thema gibt… und dann heißt es Ausdauer bewahren und probieren, probieren, probieren.
Trotz all dieser Erfahrungen die wir gesammelt haben, läuft es bei uns natürlich auch noch nicht perfekt. Die oben genannten Aspekte haben sich in den vergangenen Monaten für uns als sehr wichtig herausgestellt, dennoch lernen wir täglich dazu, machen neue Erfahrungen und benötigen an mancher Stelle auch den Rat und die Unterstützung anderer Leute. Man wächst mit seinen Aufgaben – daher ist es super wichtig, sich mit anderen Menschen auszutauschen!
EG: Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit in eurem Engagement?
Natalie: Eine große Rolle. Unser Projekt bezieht sich auf gleich drei der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung: Gesundheit und Wohlergehen, weniger Ungleichheit und Nachhaltige Städte und Gemeinden. Wir schenken Menschen im hohen Alter und mit eingeschränkter Mobilität Zeit, Beweglichkeit und Lebensfreude durch gemeinsame, ehrenamtliche Rikscha-Fahrten. Wir wollen Einsamkeit bekämpfen und die Lebenszufriedenheit und -qualität positiv beeinflussen (Gesundheit und Wohlergehen). Dabei wollen wir kein alternatives Taxiunternehmen sein, sondern viel mehr alters-, geschlechts- und schichtübergreifenden Austausch ermöglichen und unsere Quartiere lebenswerter und inklusiver zu gestalten. Außerdem möchten wir die Gesellschaft für die alltäglichen Barrieren älterer und bewegungseingeschränkter Personen sensibilisieren und so die Politik langfristig von der Wichtigkeit nachhaltiger Stadtplanung überzeugen (weniger Ungleichheit und Nachhaltige Städte und Gemeinden).
EG: Wie können sich Interessierte bei euch engagieren?
Natalie: Bei uns gibt es viele Wege sich zu engagieren. In erster Linie freuen wir uns natürlich über Ehrenamtliche, die Lust haben für andere Menschen aus ihrer Nachbarschaft in die Pedale zu treten. Wer Interesse an RoA hat, ist immer gerne zu unseren Stammtischen eingeladen, die jeden ersten Donnerstag im Monat an wechselnden Orten stattfinden. Dort hat man die Gelegenheit sich ganz unverbindlich zu informieren und mit anderen Pilotinnen und Piloten in den Kontakt zu treten. Gerne machen wir einen Termin mit Interessierten aus und nehmen uns Zeit für ein Training, bei dem wir zeigen, wo man eine Rikscha findet, welche Dinge zu beachten sind und wie die Rikscha fährt. Nach der Schulung wird man in unserem Buchungssystem freigeschaltet und kann von nun an Fahrten annehmen oder selber anbieten. Dabei bestimmt jeder individuell wann und wie oft er oder sie Fahrten unternimmt - es sind also keine festen Pflichttermine, die man damit eingeht. Eine andere Möglichkeit um sich bei uns zu engagieren, ist die Unterstützung des Orga-Teams. Wir freuen uns über helfende Hände, die uns bei Ständen in der Stadt, der Schulung von Pilotinnen und Piloten, der Organisation von Veranstaltungen oder Ähnlichem unterstützen.
EG: Euer Verein engagiert sich für Menschen im hohen Alter. Was zieht ihr aus eurer Arbeit mit ihnen, das wir manchmal vielleicht vergessen?
Natalie: Vor allem Gelassenheit und Lebensfreude. Wir stellen immer wieder fest, dass manche Leute denken: „Mit dem Alter hört der Spaß und die Lebensfreude auf.“ Auch haben gerade jüngere Menschen oft Berührungsängste mit Älteren und können sich nicht vorstellen, welchen Mehrwert der Kontakt zu einer älteren Person haben kann. Wir können aber versichern, dass die Arbeit mit unseren Fahrgästen ein großer Spaß ist, man viel gemeinsam lacht und sogar neue Freundschaften finden kann. Ich habe meinen Geburtstag sogar in einer der Einrichtungen gefeiert, weil mir die Bewohnerinnen und Bewohner sehr ans Herz gewachsen sind.